Biographie

das-bin-ich»Sie fragen mich, wer ich sei. Ich will es Ihnen ganz offen sagen: ich bin nichts, garnichts. Ich bin nur ein Dichter und das heisst ein Mensch und das heisst ein Rebell! Ich habe nie etwas gelernt, nie etwas dauernd verdient, niemals Steuern gezahlt, habe auch obwohl ich ein Deutscher bin, keinerlei Titel – man nennt oder schimpft mich einen Privatgelehrten: das letzte Exemplar dieser heute ausgestorbenen Gattung, also ein Fabeltier – die Wahrheit ist, dass ich ein Mensch bin, der in seiner Zeit keinen Raum findet und der sehn muss, wie er unter verschiedenen Masken davonkommt«
Jürgen von der Wense, zitiert bei Niehoff/Bertoncini 2005, S. 9

Mit diesem Wense-Zitat beginnt Reiner Niehoff seinen biographischen Essay »Nachforschungen zu einem Absender«. Er warnt damit vor einem Autor, der sich verschiedener Masken in seinen Werken und Briefen bediene: Man müsse vorsichtig sein, wenn man dessen Leben aus Selbstzeugnissen rekonstruiere.

Biographien hat der erste Herausgeber der Werke von Wense, Dieter Heim, seinen Veröffentlichungen stets beigegeben, so z. B. eine übersichtliche »Kurzbiographie« in: Geschichte einer Jugend, 1999, S. 457-463, bio-bibliographische »Zeittafel[n]« zu Wenses Leben und Werk findet man bei Lissek 2000, S. 260-261 und ausführlicher Niehoff/Bertoncini 2005, S. 142-153. Dort auch die Selbstbiographie Wenses von 1949 unter dem Titel »Lebensbericht« (S. 55-63).

In den beiden Werken von Dieter Heim Geschichte einer Jugend (erfasst die Zeit 1894 bis 1927) und Wanderjahre dokumentiert Heim chronologisch das Leben Wenses mit dessen eigenen Worte aus Tagebüchern und Briefen verbunden mit ausführlichen Kommentaren und erläuternden Übergängen.

Hans Jürgen von der Wense wurde am 10. November 1894 in Ortelsburg / Ostpreußen, heute Scytno geboren. Die in der Familie von der Wense verbreitete Militärlaufbahn hatte der Vater Adolf Friedrich August v. d. Wense ebenfalls eingeschlagen, seine Mutter war Luise Freiin von Nettelbladt. Im August 1902 starb der Vater während des Dienstes, einige Monate später musste sein Mutter in eine psychiatrische Klinik eingewiesen werden. Für Jahre wandert sie von Klinik zu Klink. Wense kommt zu ältlichen Verwandten.

1914 Abitur in Doberan, geht nach Berlin, Beginn des Studiums von Philosophie, Nationalökonomie und Maschinenbau. Schon zu Schulzeiten hatte er begonnen zu komponieren, und 1915 spielt er Arnold Schönberg einige seiner Klavierstücke vor. Wird im August 1915 zum Militär eingezogen, zunächst nach Schwerin, dann als Hilfsarbeiter in der Generalstabsbibliothek in Berlin, Ende 1918 Entlassung.

Er publiziert 1917 in der expressionistischen Zeitschrift »Die Aktion« einige Gedichte. Nimmt am Spartakusaufstand in Berlin und der Räterepublik in München teil. Lernt 1919 u.a. Clara Zetkin, Walter Spies, Ernst Krĕnek, Hermann Scherchen und Eduard Erdmann kennen, der 1920 fünf Klavierstücke Wenses in Berlin aufführt. Im selben Jahr findet er in der wohlhabenden Malerin Hedwig Woermann eine Mäzenatin, die ihn bis 1945 mit einer monatlichen Summe unterstützen und ihm somit ein von Lohnarbeiten unabhängiges Leben gewährleisten sollte. Trotz der kleinen Erfolge mit seinen Musiken zieht sich Wense aber wenige Wochen nach der Aufführung seiner Klavierstücke in den kleinen Kurort Warnemünde und beginnt hier bis 1930 mit Übertragungen des Laotse, des Konfuzius und des Dschou Dsi, aber auch mit solchen aus Texten der Südsee und afrikanischen Dialekten sowie aus einigen anderen Sprachen. Die wenig erfolgreiche Aufführung von sechs Liedern auf dem „Donaueschinger Kammermusikfest zur Förderung zeitgenössischer Tonkunst“ im Jahre 1922 sind nur eine kurze Ablenkung von seinen Übertragungen. Von 1925 bis 1932 mehrere Reise nach Österreich, in die Schweiz und an den Rhein.

1932 kommt Wense nach Kassel, er entdeckt und erwandert das hessisch-westfälische Mittelgebirge. Plant ein so genanntes »Wanderbuch« über das Gebiet zwischen Göttingen, Paderborn und Eschwege zu schreiben.

Ende 1940 lässt sich Wense in der Universitätsstadt Göttingen nieder, nicht zuletzt, um leichteren Zugang zu den Büchern zu haben, die er für die Arbeit an seinen Nachdichtungen benötigt. Wense, der zwischen 1938 und 1940 mehrmals gemustert worden, aber immer wieder zurückgestellt worden war, wird in Göttingen zum Arbeitsdienst eingezogen. In einer Fabrik zur Herstellung von Radiosonden arbeitet er bis 1945.

Nach Ende des Krieges erlebt er seine ersten größeren Publikationen nach sechsundzwanzig Jahren in der Göttinger Zeitschrift »Die Sammlung«, sie bringt zwischen 1946 und 1949 einige seiner Aphorismen und Nachdichtungen zum Druck. Die letzten 17 Jahre seines Lebens wird von Wense nichts mehr gedruckt!

Erst 1956, 10 Jahre vor seinem Tod und 62 jährig, findet Wense, der sich eigentlich nie wesentlich mit der Anordnung oder Systematik seiner zu schreibenden Werke beschäftigt hatte, ein Muster, in das er seine mittlerweile unzähligen Übertragungen bringen kann. In diesem Jahr erfindet Wense das »All-Buch«, ein alphabetisch nach Stichwörtern geordnetes Kompendium seiner Nachdichtungen, ein Florilegium seiner Lese- und Übertragungsarbeit, das ihm die Möglichkeit gab, ohne Klassifikationen oder Wertungen seine nachgedichteten Texte in eine Ordnung reiner Abfolge zu bringen. Doch auch das »All-Buch« wurde niemals fertig gestellt.

Wense stirbt 1966 an Darmkrebs. Nur einige wenige Freunde sind bei seinem Begräbnis anwesend, für das sich Wense „keine Trauerfeier oder Ansprache“ gewünscht hatte, sondern bloß das Verlesen „einige[r] Bibelsprüche“.