»Grosse Träume, ich flöge zum Mond, ich tanzte in javanischen Tempeln..«
Hans Jürgen von der Wense
Archiv für den Autor: scherer
Dieter Heim 25.06.1924 – 05.12.2018
Dieter Heim, Weggefährte und Freund Hans Jürgen von der Wenses und Herausgeber seines Nachlasses, ist 94jährig in seiner Heimatstadt Löffingen im Schwarzwald gestorben.
Ulrich Holbein erinnert sich
2006 nahm ich brieflich mit Dieter Heim Kontakt auf, mit Wensefragen, die er alle ausführlich beantwortete, mit Schreibmaschine. Corpus des Briefwechsels ca. 130 Seiten. Besonders imposant ein langer Brief von ihm, anläßlich von Wenses Polemik gegen den Brocken, zugunsten des Meißners und des Dörnbergs, wo er mir beschreibt, wie ich eine Meißnerbesteigung am bestmöglichsten anzugehen habe. Bis dato folgte ich dieser hochinstruktiven Anleitung nicht, noch nicht.
2007 und 2008 besuchte er Viera Janárčeková und mich zwei- dreimal im Knüllwald, das zweite Mal mit Erika Dorsch. Bei der Besichtigung unseres Dschungelgartens mit 180 Pflanzenarten schien er keine einzige Blume o. Gewächs zu beachten oder zu sehen, kommentierte aber jeden Stein, für den wiederum ich kein Auge gehabt hatte, ungefähr in diesem Stil: „Dieser Soundsostein (?) liegt hier seit 6 Mill. Jahre und wird weitere 6 Millionen Jahre stabil bleiben.“ Sehr flüchtig standen wir daneben.
Wir führten ihn ins von Wense erwähnte Hochzeitsgäßchen von Homberg an der Efze, sowie in ein verwunschenes, unbekanntes Schwarzpappel- und Nachtigallenparadies bei Niedermöllerich, 8 km entfernt von Wabern.
Er zeigte und erläuterte mir mitgebrachte Fotoalben und Einzelfotos, die heut vermutlich in den begehbaren Tresor der Murhardschen Landesbibliothek eingingen. Ich monierte, daß hintendrauf nie Jahr, Ort und Name der Personen draufstand. Da sagte er, mit weit über 80 Jahren: „Aber ich weiß es doch, wer die sind.“ Auch fragte ich ihn „Konnte Wense schwimmen?“ Da sagte er: „Das glaub ich nicht.“ Auch Fahrradfahren konnte Wense offenbar nicht.
Er schenkte mir seine hochwissenschaftliche Fachpublikation über Tonminerale, worin er mit mathematischen Formeln dartat, daß Staub nichts Anorganisches sei, sondern ein Lebendiges. Ich schenkte ihm meine Homunculus-Ikonologie. Er fuhr mit seinem Jeep vom Knüll weiter nach Norddeutschland, und hinterher erfuhr ich, daß er beim Lenken nach Hamburg und Flensburg so ganz nebenbei mein Homunculusbuch ausgelesen hatte.
Tagungsband „Hans Jürgen von der Wense. Kraftfelder und Korrespondenzen“ erschienen
“Hans Jürgen von der Wense – Kraftfelder und Korrespondenzen”, hg. von Daniele Dell’Agli und Literaturhaus Nordhessen. Mit Beiträgen von Ulrich Grober, Harald Kimpel, Wolfgang Kemp, Wolfgang Bühling, Andreas Langenbacher und Daniele Dell’Agli. Verlag Winfried Jenior, Kassel 2018, 153 Seiten, 16,00 Euro.
Vorwort(e) von Daniele Dell’Agli
Die höchste Wirkung ist das Verschwinden (Epidot 1946). Ein typischer Wensesatz, superlativisch, kokett und tragikumflort; wiederholt notiert und auf den ersten Blick ebenso klar wie widersinnig. Je länger man sich damit beschäftigt, desto rätselhafter wird er. In einem banalen Verständnis – nämlich als Versprechen oder Drohung an seine Nachwelt – hat sich dessen Bedeutung nicht erfüllt; vorsorglich hat Wense, bevor er vor einem halben Jahrhundert als Person von dieser Welt verschwand, seine gesammelten Niederschriften seinem besten Freund Dieter Heim als Nachlass überlassen. Allerdings nicht ohne zuvor die Spuren zu einem möglichen Werk so gründlich zu verzetteln, dass mittlerweile bereits vier Tagungen stattfanden, um etwas Ordnung in dieses Chaos zu bringen, vier Tagungen wohlgemerkt zu einem Autor, von dessen Werk gerade mal ein Achtel veröffentlicht ist – ein, soweit ich sehe, einmaliger Fall in der Geschichte literarischer Rezeption.
Der vorliegende Band bringt überwiegend Vorträge aus den letzten beiden Tagungen, die das Literaturhaus zwischen 2013 und 2016 in Kassel veranstaltete, sofern diese nicht schon anderweitig veröffentlicht wurden. Unter dem Titel „Kraftfelder und Korrespondenzen“ finden sich dementsprechend Beiträge, die entlang der Tagungsschwerpunkte ein breites Themenspektrum entfalten. Ulrich Grober schreitet den kosmologischen Horizont von Wenses Wander-Notaten ab; Harald Kimpel erkennt in der „ambulierenden Lebensform“ den Motor von Wenses eigensinnigen Denk- und Schreibbewegungen; Wolfgang Kemp erkundet mit dem neu erwachten „Selbstverständnis der Regionen“ in der Weimarer Zeit das mentalitätsgeschichtliche Terrain für Wenses späteren emphatischen Regionalismus; Wolfgang Bühling rekonstruiert das „antipodische“ Verhältnis zwischen Wense und Heinrich Hauser; Andreas Langenbacher beleuchtet die Schlüsselrolle einer Schellinglektüre für Wenses „Initiation“ in sein Wanderleben ab 1932; wiederum Harald Kimpel zeichnet mit Wenses „Farbenlehre“ das Porträt eines zugleich sinnenberauschten Wortkoloristen und wortberauschten Synästhetikers; Daniele Dell’Agli schließlich spürt in Gesten und Figuren des Enthusiasmus’ gute Gründe für die anhaltende Faszination des „Phänomens“ Wense nach.
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„Die höchste Wirkung ist das Verschwinden“: Wer sich den Stand der Erschließung von Wenses Nachlass 50 Jahre nach seinem Tod vor Augen führt, hat die Wahl: Entweder es ist das Verschwinden des Autors als Bedingung für die Entfaltung einer maximalen Wirkung gemeint; oder es geht um das Verschwinden des Werkes als solches, nämlich als einheitlichen Textcorpus und überlieferungsfähiges Ganzes. In dieser radikal modernen Lesart scheint der 1946 notierte Satz ein uns heute als dekonstruktivistisch vertrautes Literaturverständnis vorwegzunehmen. Doch hier ist gleich doppelt Vorsicht geboten: Zum einen lehrt schon die Etymologie, dass jedes Werk sich einem Wirken in der engeren Bedeutung von „Arbeiten“ verdankt, sowie es umgekehrt ohne Werk keine Wirkung im weiteren Sinne von „Einfluss üben“ gibt, ja strenggenommen nicht einmal eine Wirklichkeit des wirksam Hervorgebrachten. Zum anderen ist auch der Dekonstruktivismus auf einheitlich bzw. zusammenhängend erkennbare oder wie immer vorläufig bzw. endgültig zum Abschluss gebrachte Gebilde angewiesen, an denen er sein aufschließendes Instrumentarium ansetzen kann. Das desoeuvrement greift bei Wense nicht, weil es buchstäblich nichts zu ent-werken gibt.
Man kann weder sagen, Wense habe uns etwas Vollendetes hinterlassen, noch etwas Unvollendetes, das Fragment geblieben wäre von etwas anderem, das unter günstigeren Umständen hätte vollendet werden können. Seinen Mappen fehlt insofern auch die Tragik, die Adorno mit Blick auf Benjamin vermerkte, als er schrieb, das Fragment sei der Eingriff des Todes in das Werk. Denn es ist sehr zu bezweifeln, ob Wense jemals mit irgendeinem seiner Vorhaben zu einem Ende im Sinne eines Abschlusses gekommen wäre, dessen Vereitelung man rückblickend einem biografischen Akzidens hätte zuschreiben müssen. Man kann schlechterdings nicht die Bedingungen angeben, unter denen Wanderbuch, Wetterbuch, Liederbuch, etc. eine abschließende, die Ansprüche des Autors wie die der Philologie befriedigende Gestalt erreicht hätten.
Gerade darum kann man dem Aperçu, dessen trotzig aufbegehrender Gestus das Überleben der Hinterlassenschaft wie mit einer self-destroying prophecy sichern möchte, noch eine dritte Option abgewinnen: der Autor verschwindet als Mandant potentieller Philologen, erteilt seiner Nachwelt carte blanche. Zum Beispiel die Freiheit zweigleisig zu verfahren: seinen archivarischen Hypertext als solchen digital zu erfassen und in seiner ganzen anarchischen Unübersichtlichkeit online zu stellen und ausgewählte, thematisch gebündelte und kommentierte Editionen für den Druck zu erstellen, um mit Hilfe der anderen Gravitation des Buches dem disseminativen Sog der nachgelassenen Aufzeichnungen entgegenzuarbeiten. So oder so: Wenn Fragmente – nach Friedrich Schlegels Diktum – „Projekte aus der Zukunft sind“, dann harrt das Projekt, das Wenses fragmentarisches Universum seiner Nachwelt aufgegeben hat, noch seiner Dechiffrierung.